Ich stand im leise fallenden Schnee und senkte die Hand, die auf halben Weg zur Klingel erstarrt war. Sie zitterte. Ich redete mir ein, dass es an der Kälte lag. Mein schneller Atem tanzte in Dampfwölkchen durch die Nacht und mein Herz hämmerte im Rhythmus der Bässe, die durch die Tür drangen. Ich könnte später einfach behaupten, dass sie die Klingel nicht gehört hatten...?
„Grit Gerharts!“, quietschte es hinter mir. „Schön, dich zu sehen! Wieso stehst du denn hier in der Kälte? Hören die da drinnen nix?“ Lena drückte erst mich und dann energisch auf die Klingel – jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Wie ist Berlin? Oh Gott, ich beneide dich so! Ich will auch endlich raus aus Recklinghausen, aber erst muss ich meine Ausbildung–“
Die Tür ging auf und da stand er: Michael Wessler. Mein Magen krampfte sich zusammen. Er hatte sich verändert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber seine Augen strahlten immer noch dieselbe Wärme aus.
„Hey Lena!“ Er küsste sie auf die Wange. Dann trafen sich unsere Blicke und für einen langen Moment sahen wir uns einfach nur an. „Grit! Schön, dass du gekommen bist.“ Seine Stimme klang rau. „Komm rein, sonst erfrierst du noch.“
Die Szenerie, die mich erwartete, kam mir falsch vor: Lachende Gesichter, tanzende Körper, glückliche Menschen. Ich wurde von allen Seiten begrüßt, gedrückt, geküsst. Viele meiner Schulfreunde hatte ich seit dem Abi im Sommer nicht gesehen, also riss ich mich zusammen. Vom Lächeln taten mir die Wangen bald genauso weh wie mein Herz. Es war eine Qual, hier zu sein. Aber es gab keinen Ort, an dem ich lieber sein wollte.
Ich saß neben Lena auf der Couch, als Supergirl von Reamonn gespielt wurde – mein Lieblingslied. Ich wusste, dass das kein Zufall war.
„Willst du tanzen, Grit?“
Diesen Moment hatte ich seit Michaels Brief zu Weihnachten gleichermaßen gefürchtet wie herbeigesehnt. Ich traute meiner Stimme nicht, also nickte ich nur. Seine Hände waren kalt, als er mich an sich zog. Wir bewegten uns im Takt der Musik, versunken in unsere Gedanken, verloren in der Nähe des anderen.
„Ich bin so froh, dass du da bist, Grit. Ich hatte Angst, dass du nicht kommst, weil ich...“ Sein unvollendeter Satz hing zwischen uns wie eine Aufforderung, aber ich war noch nicht bereit, über dieses Thema zu reden. Über uns zu reden.
„Wie läuft denn das Praktikum bei deinem Vater, Michael?“
Sein Oberkörper vibrierte und ich bedauerte, dass es um uns herum so laut war – ich liebte den Klang seines Lachens.
„Ich hasse jede einzelne Sekunde.“
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Er schien mein Unbehagen zu spüren und strich mir sanft über den Rücken.
„Es erinnert mich tagtäglich daran, was ich nicht haben kann, Grit .“ Michael zog mich enger an sich und ich konnte spüren, wie dünn er geworden war. „Ein normales Leben." Einen Moment tanzten wir schweigend, dann sagte er: "Erzähl mir von dir. Wie ist Berlin?“
In meinem Hals formte sich ein Kloß. „Super! Berlin ist eine aufregende Stadt. Ich fühle mich sehr wohl.“
„Hast du schon neue Freunde?“
„Ja, ich–“
Michael presste sein Gesicht in meine Haare. „Es tut mir so leid, Grit. Ich hätte dich nicht wegstoßen dürfen, als sie es festgestellt haben. Aber ich wollte nicht, dass du mich so siehst... Ich wollte, dass du dein Leben lebst und nicht hierbleibst, wegen mir... Wenigstens einer von uns sollte unseren Traum vom Studium in Berlin leben.“
Meine Tränen versickerten lautlos in seinem T-Shirt.
„Ich weiß jetzt, dass es falsch war. Darum habe ich dir den Brief geschrieben.“ Michael schob mich ein Stück von sich. „Sieh mich an, Grit. Bitte.“
Es kostete meinen ganzen Mut, seiner Aufforderung zu folgen.
„Ich schäme mich dafür, dass ich es ausgenutzt habe, dich so gut zu kennen, Grit. Ich wusste genau, wie ich dir wehtun kann und was ich tun muss, um dich auf Distanz zu halten." Er strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. „Das ist unverzeihlich. Aber egal, was kommt: Du wirst immer einer der wichtigsten Menschen für mich sein und auch, wenn ich es nicht verdient habe, hoffe ich so sehr, dass du mir–“
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und verschloss seinen Mund mit meinem. Wir hatten schon zu viele Chancen verstreichen lassen. Er hielt überrascht inne, dann sank er gegen mich. Erst vorsichtig, dann immer fordernder erkundeten wir den anderen. Wir klammerten uns aneinander, versuchten verzweifelt, versäumte Zeit wieder gut zu machen. Unser Kuss schmeckte nach Salz.
„Leute, es ist kurz vor Mitternacht“, grölte jemand.
Widerwillig lösten wir uns voneinander und Michael wischte über meine Wangen. „Keine Tränen mehr, ok? Das ist schließlich eine Silvesterparty, keine Pity-Party.“ Er lächelte, aber es erreichte seine Augen nicht. Hand in Hand folgten wir den anderen nach draußen, um das neue Jahr zu begrüßen.
Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als ich endlich den Mut fand, nach dem zu fragen, zu dem er in seinem Brief nichts geschrieben hatte. Michael zog mich an sich, in seinen Augen spiegelte sich das Licht der Silvesterraketen.
„Jeder Tag ist ein Geschenk, Grit.“ Er küsste meine Stirn und lächelte. „Und heute ist er ganz besonders schön verpackt.“