Drei-Wort-Geschichten

Herz-Klopfen

(Gewächshaus / Hörgerät / Untermieter)

 

„Seltsam!“ Ich war mir sicher gewesen, dass es von außen ans Gewächshaus geklopft hatte. Aber der Garten war leer. 

10.38 Uhr – meine Enkel waren noch in der Schule und konnten mir demnach keinen Streich gespielt haben. War ein Vogel vor eine der Scheiben geflogen? Ich umrundete das Gewächshaus, fand aber weder Spuren, noch ein verletztes Tier. 

„Wirklich seltsam!“ Schulterzuckend ging ich wieder hinein. 

 

Normalerweise fühlte ich mich wohl, sobald ich mein grünes Domizil betrat. Ich liebte den herben Geruch feuchter Erde, das liebliche Aroma der Blüten. Es machte mich glücklich, meine Schützlinge zu umsorgen und ihnen beim Gedeihen zuzusehen. Die dichte Bewachsung sperrte die Welt nicht nur optisch aus – sie umarmte mich und erlaubte mir, das Außen für eine Weile zu vergessen. Jetzt aber war ein Gefühl der Beklommenheit mit mir hineingeschlüpft.

 

„Hast du das Klopfen nicht auch gehört, Murmel?“ Mein feliner Untermieter lag zusammengerollt auf der Arbeitsplatte. „Deine Ohren sind doch viel feiner als meine. Obwohl Dr. Schilling immer sagt, dass er den Tag, an dem ich ein Hörgerät brauche, nicht mehr erleben wird.“ Ich streichelte den Kater gedankenverloren. „Habe ich es mir wohl nur eingebildet, hm?“ 

 

Für die nächsten Stunden arbeitete ich routiniert, aber die Ruhe, die ich sonst dabei empfand, stellte sich nicht ein. 

„Es tut mir so leid! Du hast dich auf unsere gemeinsame Zeit nach der Pensionierung gefreut. Aber ich würde aus Pflichtgefühl bleiben – und das hast du nicht verdient.“  

Ich ließ die Schaufel sinken, mit der ich Erde in einen Topf schippte. Wieso kam diese Erinnerung ausgerechnet heute hoch? Es war fast drei Jahre her und ich hatte die Scherben aus 30 Ehejahren, enttäuschten Hoffnungen und entbehrter Zeit wieder zu einem neuen Gefühl der Zufriedenheit zusammengesetzt.

 

Ich erschrak, als es erneut an die Scheibe klopfte. Dieses Mal hob auch Murmel den Kopf. Mein Sohn Jan stand in der Tür. Für einen Moment blieb mein Herz stehen, dann klopfte es mir bis zum Hals. Plötzlich machte alles Sinn! Ich konnte es in Jans Gesicht lesen, das dem seines Vaters so sehr ähnelte.

Ich ging zu ihm und zog ihn in meine Arme. „Wie ist er gestorben?“

„Herzinfarkt.“

„Wann?“

„Heute Morgen.“

„Gegen halb elf?“

„Woher...?“

Ich drückte Jan fester an mich. Wie sollte ich ihm erklären, dass sein Vater zum Abschied bei mir geklopft hatte, als sein Herz damit aufgehört hatte?

 

 

Engel ohne Flügel

(Tunnel / Brief / Ballerina)

 

„Willst du ihn nicht lesen?“ Jakob setzte sich neben mich. „Du hast so lange darauf gewartet, endlich etwas zu hören.“ 

Ich starrte auf den Brief. Natürlich wollte ich ihn lesen, aber...  

„Es sind sicher gute Nachrichten, Anna.“

„Und wenn nicht?“ 

„Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.“ Er nahm mir den Umschlag aus der Hand, räusperte sich und begann zu lesen: 

 

Hallo Engel,

 

(so nennt Mama dich immer). Danke für den Brief, den du mir geschickt hast. Mama hat ihn mir ganz oft vorgelesen, weil ich das noch nicht kann. Schreiben auch nicht, darum ist Mama meine Sekretörin. Nach deinem Geschenk ging es mir ein bisschen viel schlecht, da wollte ich nicht mal spielen. Darum konnte ich nicht schneller einen Brief schreiben. Mama hat immer gesagt, dass wir uns bei dir melden, wenn wir wieder Licht sehen, weil der Tunnel zu Ende ist. Oder irgendwie sowas.

 

Mein Bruder findet gemein, dass ich eine echte Blutsschwester habe. Er wollte dann mit dem Nachbarjungen Blutsbruder werden. Sie waren aber zu feige, sich in den Finger zu piksen. Da haben sie Ketchup draufgeschmiert und so getan, als wäre es Blut. Da hat sogar Mama gelacht, obwohl überall auf dem Küchenboden Ketchup war. Es ist schön, dass Mama Lachen wieder mag. Sie sagt, dass sie dabei immer leichter wird und irgendwann an die Decke schwebt. Das geht aber nicht in echt, oder? Mama hat gesagt, nur bei Mary Popel oder wie die heißt. Kennst du die?

 

Zuhause ist es viel schöner als im Krankenhaus. Am liebsten schaukele ich, spiele mit meinen Puppen oder meinem Hund oder ich tanze. Ich habe dir gemalt, wie ich aussehe, weil ich kein Foto schicken darf. Meine Haare sind in echt noch nicht so lang, aber das Kleid mit dem Tutu habe ich wirklich. Ich möchte nämlich mal eine Ballerina werden. 

 

Beim letzten Mal hat mein Doktor gesagt, ich kann alles werden, was ich will. Auch Ballerina. Da hat Mama gelacht und geweint, beides auf einmal. Und dich wieder unseren Engel genannt. Du hast aber keine Flügel, oder? Malst du mir ein Bild von dir?

 

Ich muss aufhören, mein Bruder hat Schokolade. Die esse ich so gerne.

 

Deine Fips 

(Das ist nicht mein echter Name, den darf ich dir nicht verraten, aber mich nennen eh alle nur Fips.) 

 

Ich wischte über meine Wangen und fing an zu lachen. Erst leise, dann immer befreiter, bald aus ganzem Herzen. Ich fühlte mich plötzlich auch so, als könne ich zur Decke schweben – ganz ohne Flügel.

 

 

Rape-Putation

(Studentenwohnheim  / Laufmasche / Groupie)

 

„Sie müssen mir genau beschreiben, was passiert ist!“ 

Ich ignorierte den drängenden Ton des Polizisten und strich über die Laufmasche, die wie ein anklagender Zeigefinger unter dem Saum meines Minirocks verschwand.

„Sind Sie überfallen worden?“

Ihr Ursprung lag höher, im Zentrum meiner Weiblichkeit. 

„Oder wurden Sie...sexuell belästigt?“

Nicht nur das dünne Material meiner Strumpfhose war zerrissen, sondern auch mein Weltbild.

„Haben Sie den Täter gesehen? War es jemand, den Sie kennen?“

„Denkst du, sie schenken einer Studentin mehr Glauben als einer Koryphäe ihrer Universität?“, wisperten seine Worte durch meinen Kopf. Ich schloss die Augen, in dem Versuch, die Tränen zurückzudrängen.

„Ich weiß, dass es schwer ist, aber Sie müssen mit mir reden. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.“

„Jeder weiß, dass du wie ein Groupie in jeder meiner Vorlesungen warst und unbedingt meine Hilfswissenschaftlerin werden wolltest.“

Eine mascarageschwärzte Träne tropfte auf meine Hand, die immer noch über die Laufmasche strich.

„Die vielen Überstunden – nur, um in meiner Nähe zu sein.“

„Sollen wir jemanden anrufen? Eine Freundin? Freund? Ihre Eltern?“

„Sie werden glauben, dass du in mich verliebst bist. Aber ich bin verheiratet, hingebungsvoller Vater und treuer Ehemann. Natürlich habe ich dir eine Abfuhr erteilt...“

Ich schluchzte auf.

„...und weil du mich nicht haben kannst, erzählst du jetzt Lügen über mich.“

Jemand stellte einen Becher Kaffee neben mich. 

„Waren Sie auf dem Weg zum Studentenwohnheim, als Sie überfallen wurden?“ 

„Du wolltest, dass ich dich begehre. Warum sonst trägst du diesen kecken Minirock und das Make-Up?!“

Ich griff nach dem Becher, um mich an etwas festhalten zu können. Die Wärme tat gut.

„Es gibt keine Zeugen dafür, dass ich dich so spät nochmal ins Büro bestellt habe. Niemand hat uns gesehen.“

„Sehen Sie mich an. Bitte.“ 

Etwas in der Stimme des Polizisten erreichte mich und ich hob den Blick. In seinen Augen standen Mitleid und Sorge. „Sie wurden panisch, verstört und verletzt aufs Revier gebracht. Wer immer dafür verantwortlich ist, muss zur Rechenschaft gezogen werden! Schweigen schützt nicht Sie, sondern ihn.“

„Dein Wort gegen meins.“

„Ich habe selber eine Tochter in Ihrem Alter.“

„Ich bin ein Professor mit tadelloser Reputation...du bist ein Niemand.“

„Vertrauen Sie mir, bitte.“

Niemand konnte mich davon abhalten, für mich einzustehen. Ich atmete tief durch und sah dem Polizisten entschieden in die Augen: „Ich bin Sarah Gerke und mein Professor hat versucht, mich zu vergewaltigen.“

 

 

Tempel des Todes

(Tempel / Badezusatz / Popstar)

 

„Ich habe mir für dich einen besonderen Badezusatz ausgedacht, mein Engel.“ Er lächelte und zeigte auf die schäumende Flüssigkeit. „Glaub mir – dieses Badeerlebnis wird dich grundlegend verändern.“ 

Die Kerzen, die den Raum in weiches Licht tauchten, flackerten, als er auf sie zuging. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. „Entspann dich, meine Schöne. Gleich wird alles von dir abfallen.“ 

Summend ging er zu einem kleinen Tisch, auf dem eine Stereoanlage stand. „Fehlt nur noch Musik, oder?“ Er drückte eine Taste und die Klänge einer Ballade schwebten durch den Raum.

„Ahh, perfekt. Ich liebe dieses Lied. War das nicht der Song, mit dem du zum Popstar geworden bist?“ Er sang leise mit und strahlte sie an. „Bist du jetzt bereit für dein Bad, mein Herz?“

 

Er trat neben sie und streifte ihr langsam den Bademantel von den Schultern. „Du bist wunderschön.“ 

Sie schluchzte auf. 

„Schsch, nicht doch. Das Bad wird dir guttun, vertrau mir.“ Er fing eine ihrer Tränen auf. „Du bist ja jetzt schon ganz aufgelöst.“ Sein Lachen klang wie das Meckern einer Ziege.

„Der Badezusatz heißt Tempel des Todes. Supersäure, Rosenholz und Honig. Nur das Beste für dich, Indiana.“ Er nahm den Bademantel und warf ihn in die Flüssigkeit. Die Säure zersetzte ihn in Sekundenschnelle unter wütendem Zischen. „Du musst keine Angst haben, meine Liebe. Rose wirkt beruhigend und entkrampfend.“ Er küsste sie auf die Wange. „Bist du bereit, einzutauchen?“

Er griff ihre Schultern und bugsierte sie an den Rand des Behälters. Indiana wehrte sich, so gut es ihre gefesselten Hände zuließen. Das Duct-Tape verschluckte ihre Schreie und –

 

„Schatz? Darf ich dich kurz stören?“

Ich sah genervt von meinem Bildschirm auf. „Was? Ich bin mitten im Showdown, Cleo.“

„Entschuldige, aber ich habe dich vom Garten aus durchs Fenster gesehen und deine Schulterpartie schreit förmlich Verspannung.“

„Und?“

„Ich dachte, ich lasse dir ein Entspannungsbad ein. Das Wasser ist gleich fertig.“

„Das ist süß von dir, Cleo. Aber ich will nicht baden. Ich arbeite.“

„Das Bad wird dir guttun, vertrau mir. Ich habe einen ganz besonderen Badezusatz, mit Rosenholz und Honig. Er heißt – geht’s dir gut, Tom? Du bist plötzlich ganz blass?!“

„Alles ok“, krächzte ich.

„Der Badezusatz heißt Tempel des To–“

Ich schrie auf.

„–talen Einklangs. Ist wirklich alles ok, Tom?“

Ich nickte schwach.

„Bist du dann bereit für dein Bad, mein Herz?“